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Spiritus contra Spiritum Herzensgebet und Abhängigkeitserfahrungen Beitrag in Hesychia II - Wege des Herzensgebetes, © Claudius Verlag 2014, S.142 ff
Einführendes „Sein Verlangen nach Alkohol war auf einem niedrigen Niveau das Gleiche wie der spirituelle Durst unseres Strebens nach Ganzheit, in mittelalterlicher Sprache: das Streben nach Gott. ... Sie sehen, Alkohol heißt in Latein „spiritus", und wir verwenden das gleiche Wort für die höchste religiöse Erfahrung wie auch für das am meisten erniedrigende Gift. Die hilfreiche Formel ist daher: Spiritus contra Spiritum.“
Diese Formel fiel auf sehr fruchtbaren Boden und löste eine gewaltige Bewegung aus, die Veränderungen im Leben von Millionen Menschen in über 90 Ländern bewirkte. Mit anderen Worten: Geist statt Schnaps, Spiritualität statt Drogen, das Religiöse anstatt die verruchte und berauschende Substanz und religiöser Sinn statt Sucht. Spiritus contra Spiritum. Es ist nicht verwunderlich, wenn die Worte Spiritus contra Spiritum unterschiedlichste Erwartungen und Assoziationen wecken. Sie können uns eine Spur aufzeigen und einen Hinweis auf den bestehenden Zusammenhang und das Ineinander der verschiedenen Erfahrungsdimensionen von Spiritualität und Abhängigkeit, Rausch und Ekstase, Wunde und Wunder, Leidenschaft und Tugend, Kreuz und Auferstehung, via purgativa und via illuminativa geben. Besitzt der spirituelle Aspekt der Abhängigkeits- oder Rauscherfahrung das nachhaltig wirkende Potential, um auf seelische und ganzheitliche Genesungsprozesse förderlich einzuwirken?
In den vielschichtigen Klärungs-, Wandlungs- und Heilungsprozessen scheint es immer wieder um den entscheidenden Blickwinkel auf das zugrundeliegende Wesen einer Erfahrung zu gehen, von dem aus die jeweilige Sichtweise interpretiert wird. In unserem gängigen Gesundheitssystem und herkömmlichen Konzeptionen zur Behandlung und Bewältigung von Abhängigkeitserfahrungen, erscheint immer noch ein weit verbreitetes Welt- und Menschenbild, das sich primär an die biologisch/physische, mental/psychische und sozio/kulturelle Dimension des Menschen wendet und auf diesen Ebenen versucht, die aus dem Gleichgewicht geratene Ordnung wieder in Harmonie zu bringen. Die zusätzliche Einbeziehung der spirituellen Dimension des Menschen in Genesungsprozesse scheint langsam im kollektiven Bewusstsein anzukommen. Das ist nicht nur notwendig und erfreulich, sondern sollte sogar so weit gehen, dass sie eben in der Wahrnehmung nicht nur ein weiterer Aspekt der Gesundung ist, sondern der konstituierende Grund aller gesamtmenschlichen Erfahrungsebenen. Wir sind eben nicht nur „menschliche Wesen, die eine spirituelle Erfahrung machen, sondern wir sind zu allererst spirituelle Wesen, die eine menschliche Erfahrung machen“.
Sind wir eine Gesellschaft von Süchtigen? Einige beeindruckende Zahlen aus dem Suchtbericht 2013 scheinen die Frage nach einer süchtigen Gesellschaft zu bejahen und können die individuelle Bedeutung und die kollektive Dimension dieser verbreiteten Verhaltensweisen verdeutlichen, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit den inneren Verwerfungen und Nöten vieler Menschen zu stehen scheinen. Bei 17 Millionen RaucherInnen, 8,5 Millionen Menschen, die riskant Alkohol konsumieren, 3 Millionen Drogenabhängen und ca. 1,4-1,9 Millionen Medikamentenabhängigen, erscheinen ca. 8 Millionen Angehörige und davon ca. 2-3 Millionen mit betroffene Kinder. Diese Zahlen sollten aufmerken lassen. Zusammengefasst verweisen diese Untersuchungen auf eine Größenordnung von geschätzten ca. 38 Millionen Menschen, die in der einen oder anderen Weise systemisch in einer von Abhängigkeit geprägten Atmosphäre leben, wobei davon auszugehen ist, dass diese Zahlen sogar noch höher liegen, wenn man die im Anonymen bleibenden Personen und verschiedenen anderen, hier nicht genannten und weit verbreiteten Suchtformen mit dazu nimmt. Gerade beim Medikamentenmissbrauch wird die Zahl der Betroffenen umfangreicher angenommen und auch das Thema Medienabhängigkeit gewinnt immer mehr Bedeutung und spiegelt sich in den Erhebungen bisher nur marginal wieder. Das Bild einer süchtigen Gesellschaft scheint nicht weit hergeholt zu sein. Ist diese Wahrnehmung nur der pessimistische Blick auf das halbvolle Glas oder verweist dieser Zustand nicht gerade in dem jetzt erscheinenden Grad einer individuellen und kollektiven Verfinsterung auf das baldige Kommen des Lichtes?
Was ist Sucht? Das Wort Sucht beschreibt aus dem Altgermanischen kommend zunächst aus seiner etymologischen Perspektive den Zustand des Dahinsiechens und Leidens an etwas „siechen“ (ahd. siuchan, mhd. siechen). Zum Anderen klingt darin die unermüdliche Suche - die Sehnsucht nach etwas an. Beide Interpretationen ergänzen sich gut und verweisen auf eine tiefliegende urmenschliche Erfahrung des Getrenntseins und des Leidens und die damit verbundende Sehnsucht anzukommen. Sucht spiegelt das Bedürfnis Beheimatung zu finden wieder. Heim zu kommen. Heil zu sein. Ganz zu werden. Anteil an der Erfahrung der Ruhe des Herzen zu bekommen (hesychia). Auch im Stillen eines Babys an der Mutterbrust und der Analogie, dass ein Mensch „an der Flasche zu hängt“, drückt sich die urmenschliche Sehnsucht nach beruhigt und genährt-werden wieder. Recht gestillt findet der Mensch innere Ruhe.
Eine Geschichte: „Ein Chasside beklagte sich bei Rabbi Wolff, dass gewisse Personen mit Kartenspielen die Nacht zum Tag machten. „Das ist gut so“, sagte der Zaddik. „Wir Menschen wollen Gott dienen und wissen nicht wie. Doch nun lernen sie, wach zu bleiben und bei einer Sache auszuharren. Wenn sie darin vollkommen geworden sind, brauchen sie sich nur noch Gott zuzuwenden - und welch hervorragende Diener werden sie dann für ihn sein!“ Ist es so, dass eine Abhängigkeitserfahrung letztendlich nur ein folgenschwerer Irrtum ist? Ein verfehltes Suchen nach dem Eigentlichen? Und das wir nur einen Richtungs-, Haltungs- oder Bewusstseinswandel vorzunehmen brauchen, um die süchtigen und zerstörerischen Kräfte in uns zu besänftigen, zu transformieren und in die richtigen Bahnen zu lenken brauchen? Können diese oftmals schmerzhaften Erfahrungen uns für eine Suche nach dem, „was uns unbedingt angeht“ (Paul Tillich) öffnen - also nach Gott? Wirkt also in allem sehnenden und siechenden Suchen letztendlich die Sehnsucht nach Ganzheit, Gott, dem Heil-Land? Wie gelingt eine nachhaltig wirkende Transformation der sich uns auch oftmals unheilvoll und schmerzhaft zu erkenn gebenden Abhängigkeitserfahrungen? Braucht es kulturelle Auf- und Abbrüche in Verbindung mit innerseelischen Erschütterungen, damit eine grundlegende Veränderung und neue Lebensausrichtung möglich wird? Welche Hinweise können dabei religiös/spirituelle Erfahrungsebenen geben oder welche Heil- und Genesungshinweise finden wir in einer spirituellen Wegtradition wie z.B. dem Herzensgebet?
Zeig mir deine Wunde(r) Wie kann ein persönlicher Prozess der Wandlung und Heilung angeregt oder initiiert werden? Thomas der Zwilling erkennt Jesus erst, nachdem er die Finger in seine Wunde gelegt hat und findet darin Heilung und Einsicht in die göttliche Bedeutung seines Meisters Jesus, den er daraufhin mit „Mein HERR und meine Gott“ anspricht. So offenbart sich ihm das heile Land – der Heiland. (Johannes 20, 24ff) In dieser schonungslosen Bereitschaft, den Finger in die Wunde zu legen und der Wahrheit ins Auge zu schauen, leuchtet ein Ganzwerdungspotential auf, dass dem Wunder der Christuserkenntnis die Tür geöffnet hat und heilsame Kräfte freisetzt.
Der deutsche Aktionskünstler und Visionär Joseph Beuys bezieht sich auf dieses Geschehen in seiner Installation von 1974/75 und hat damit nicht nur für Irritation, Provokation und Aufmerksamkeit gesorgt, sondern einen essenziellen Heilungsaspekt betont, der sich durch sein Gesamtwerk wie ein roter Faden zieht und Ausdruck in dem Satz „Wenn du mir deine Wunde zeigst, wirst du geheilt werden. Wenn du mir deine Wunde nicht zeigst, kannst du nicht geheilt werden“ Gestalt gewonnen hat. Jahrtausende vorher verkündete der Prophet Jesaja „Durch seine Wunden sind wir geheilt.“
In allen unseren Wunden und Verwundungen, Schmerzen, Abhängigkeiten und Leiden wirkt in uns eine oftmals unsichtbare Kraft, die uns mit dem Wunder und dem Geheimnis des Lebens verbinden möchte. Das Leidvolle scheint geradezu das Eingangstor für diese Erkenntnis zu sein. Manche Menschen, die ich in meiner Arbeit in der Suchthilfe begleite, scheinen eine besondere Nähe und Zugänglichkeit zu dieser Erfahrungstiefe zu haben. Wenn diese Menschen, die oft umfassend und existenziell sich vom Leben bedroht fühlen, sich aufmachen, um die Wahrheit ihres Lebens herauszufinden, dann lassen sie sich auf einen oftmals viele Jahre andauernden Genesungsweg ein, der ihnen aus der Rückschau gestattet, die zuvor sich Selbst und Anderen zugefügten Wunden als Wunder zu interpretieren. Als ein gelebtes Leben voller oft schmerzhafter Erfahrungen, die sie oftmals feinfühliger, wahrhaftiger, beziehungsfähiger, liebevoller, verantwortlicher und sinnerfüllter geformt hat. Dann geschieht es manchmal, dass diese Menschen mit einem neuen Einverständnis für alles Erlebte durchs Leben gehen. Allmählich sich aufrichtend, kann aus diesen Wegen und Umwegen eine ganz neue Dankbarkeit und Bescheidenheit erwachsen und der Wunsch, das Erfahrende zu teilen und weiter zu geben. Welche Einsicht lässt „den Groschen“ fallen? Was kann der Impuls sein, sich auf den Weg zur eigenen Wahrheit zu begeben und Abschied von den gewohnten Lebenslügen, Ausweichmanövern und antrainierten Vermeidungsstrategien zu nehmen?
Freisein Die vollständige Abhängigkeit und Verbindung mit Allem was ist, hat neben der unlösbaren Verbundenheitsqualität und Einheitsverheißung für unser Bewusstsein in manchen Beziehungen auch sehr fatale und schmerzhafte Folgen. Unsere Wahrnehmung und unser Verhalten sind oftmals von einem missbräuchlichen Umgang mit Substanzen, Mustern, Leidenschaften und Anhaftungen machtvoll geprägt und führen uns eben nicht in die verheißene Freiheit und Ganzheitserfahrung eines spirituellen Weges, in der wir uns mit Allem vernetzt und von Allem erfüllt erleben. Die Kennzeichen des abhängigen Erlebens führen uns oftmals in ohnmächtige Erfahrungen, in denen wir uns hilflos, ausgeliefert, leidvoll und verstrickt erleben. Darum gilt es, eine entscheidende Frage zu stellen. Erlebe ich mich vernetzt oder verstrickt? Bin ich in dem Netz des Lebens geborgen und erfahre ich mich lebendig und verbunden mit der Schöpfung und ihren Lebensbedingungen oder erlebe ich mich verstrickt, betäubt, verletzt, getrennt und leide an meinen rastlosen Lebensumständen und zerrissenen Verhältnissen, in denen ich mich unruhig hin und her bewege? Bin ich im inneren Einklang mit der großen Harmonie des Kosmos, wenn ich mein menschliches Lied vom Leben in Zeit und Raum anstimme? Wenn ich hilfreiche Antworten finden möchte, soll es keinesfalls darum gehen, die lustvolle Körperlichkeit, die berührenden Gefühlswelten oder die denkerischen Fähigkeiten meines Bewusstseins loszuwerden oder abzuspalten. Es geht auch nicht darum, meine Lebenswelten in ihren fragmentarischen und schmerzhaften Dimensionen zu betäuben, zu verleugnen, zu verhüllen oder zu verdrängen. Es darf auch nicht darum gehen, diese menschlichen Dramen und Geschichten abzulehnen, abzutöten oder weghaben zu wollen. Auf einem Weg der seelischen Gesundung und Ganzwerdung kann es nur um ein Einverständnis, ein Zulassen des Gegebenen gehen. Also nicht Frei-Sein von dem oder das, sondern Frei-sein in dem, wie ich „ticke“, wovon ich biografisch oder typologisch geprägt bin, was mir widerfährt oder wo mich etwas vor sich hertreibt. Das Frei-sein in verweist auf eine wirklich neue und befreite Bewusstseinsqualität, die es anzustreben gilt und die ein verheißungsvoller Schritt in die richtige Richtung wäre. „Wenn du auf einem Berg stehst ist es einfacher, den Wind mit deiner Jacke aufzuhalten, als den Strom deiner Gedanken zu stoppen.“ sagen wohlwissend um diese Schwierigkeiten die Wüstenväter oder wie es der amerikanische Lehrer Joseph Goldstein formulierte: „Du kannst die Wellen nicht anhalten, aber du kannst lernen, auf ihnen zu reiten“. Diesem Zusammenhang folgend besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen diesen beiden Bewusstseinshaltungen und Wahrnehmungsebenen. In der einen Sichtweise geht es um ein Loslassen (Frei-Sein von) in der anderen um ein Zulassen (Frei-Sein in). Beide Perspektiven scheinen ihren Ort und ihre Zeit zu haben. Ich glaube, dass letztere eine tiefere Befreiung von Abhängigkeitsstrukturen ermöglicht und den Menschen zu einem größeren Einverständnis für das Unlösbare und Unvollständige führen kann.
Aufmerksamkeit - Achtsamkeit - Wahren Ein weiterer Zugang, um dieses zu erlernen, ist eine sorgfältige Aufmerksamkeitsschulung. Eine Schulung, die das Bewusstsein in die reine Wahrnehmung dessen was ist, einübt und schult. Auf dem Weg des Herzensgebetes finden wir dafür den Begriff der nepsis (griech. νῆψις), der eine zentrale Stellung in der christlich orthodoxen Tradition der Wüstenväter einnimmt. Die nepsis steht für die Befähigung zu Aufmerksamkeit und des Nüchtern- und Wachseins und lässt sich z.B. auf die Stelle bei Matthäus 24 im Vers 42 beziehen: „Darum wachet, denn ihr wisst nicht, an welchem Tag der HERR kommt.“ Ebenso zutreffend finden wir im Petrusbrief die entscheidende Mahnung zu Wachsamkeit in Verbindung mit der Bitte um vollkommenes Anvertrauen an das Gegebene: „Alle eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorgt für euch. Seid nüchtern und wachet; denn euer Widersacher geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, welchen er verschlinge.“
In anderen, vorrangig östlichen Weisheitswegen, wird vom Beobachtergeist oder Zeugenbewusstsein gesprochen. Auch das christliche Bild des Märtyrers (von griechisch μάρτυς „Zeuge“) kann, in seiner Bezeugung des Wahren - der Wahrheit, bis hin zum eigenen Blut, hier Beachtung finden. In dem Märtyrer klingt auch wieder die vorab erwähnte Bedeutung vom Herzeigen, Zeugen, Bezeugen der Wunde(r) an und kann eine weitere Facette dieser menschlichen Hingabefähigkeit bewusst machen. Desweiteren finde ich im Zusammenhang mit dem Begriff der nepsis eine Begrifflichkeit erwähnenswert, die der integrale Pionier und Bewusstseinsforscher Jean Gebser (1905-1973), in seinem Hauptwerk „Ursprung und Gegenwart“ (1953) eingeführt und verwendet hat. Gebser benennt den Weg, um die Wirklichkeit wertungsfrei und annehmend aufzunehmen, als das Wahren. Das sogenannte Wahren ist die zukunftsweisende Gabe der menschlich möglichen und sich in dieser Zeitepoche konstellierenden integralen Bewusstseinsstruktur. Es meint eine Fähigkeit, wahrzunehmen was ist, wie ein Spiegel, in seiner ursprungsgegenwärtigen Tiefe und als raumzeitfreie Manifestation des Transzendenten im Immanenten. Christlich würden wir vermutlich von der Fähigkeit zur reinen Wahrnehmung des „WORTES im Fleisch“ oder von der Erkenntnis, die Christusnatur in allen Dingen zu schauen, sprechen. Das Wahren geschieht im Erleben, Fühlen und aufmerksamen Beobachten der reinen Wirklichkeit und kann durch Meditation und achtsame Kommunikation bewusst, entwickelt und kultiviert werden.
Jede und wirklich jede Tätigkeit, jede Erfahrung und jede Begegnung scheinen geeignet zu sein, um Aufmerksamkeit zu entwickeln. Wie bin ich jetzt da? Wo spüre ich mich? Was fühle ich gerade? Wo bin ich gerade mit meinen Gedanken? Was sagt mir mein Gefühl jetzt? Wohin wandert mein Herz immerzu und woran leidet es? Ich kann mich dieser Innenschau öffnen, in dem ich mich wie ein Kartograph verhalte. Ich betrachte die Straßen und Landschaften, beobachte das Gelände, wie es sich zueinander verhält, ineinander fließt, wie eines das andere bedingt, welche Qualität es hat, welches Wetter herrscht, wo Not ist, wo Fülle. Ich urteile nicht. Halte nicht fest. Lehne nicht ab. Ich beobachte, untersuche und dokumentiere in meinem Inneren ganz genau, was ich wahrnehme, benenne und etikettiere es und entfalte damit ein sich immer kraftvoller verfeinerndes Bewusstsein, das mit den Jahren an Einfluss gewinnt, aufblüht und zum Diener meiner Ganzwerdung wird. Dieses Bewusstsein kann die hinderlichen Kräfte in die Schranken verweisen und kultiviert allmählich und nachhaltig die Gabe der Unterscheidung (diakrisis, griech. διάκρισις). Die Fähigkeit zur Unterscheidung der „Geister“ ist ein sehr wirkungsvolles und unverzichtbares Instrument der via purgativa und ein zentraler Begriff in der orthodoxen Spiritualität.
Ein musikalisches Problem? Novalis spricht davon, dass „Krankheit ein musikalisches Problem sei“. Es sollte uns nicht verwundern, wenn Heilungsprozesse heutzutage als eine Vorgehensweise verstanden sein können, die die Harmonisierung der inneren dissonanten Klänge anregen und harmonikale Strukturen erzeugen und gestalten sollte. Welch ein Potential tut sich da auf, wenn wir ganzheitliche Genesungsaktivitäten so verstehen, dass sie aus unserem künstlerisch/kreativen und ästhetisch/intuitiven Potential erwachsen und innewohnende Selbstheilungskräfte anregen und entfalten können. Abhängigkeitssyndrome sind dann in ihren Tiefenstrukturen „Kakophonien der Extraklasse“ (schlechte Klänge) und erzeugen aus ihrer Dissonanz heraus die Wahrnehmung der Trennung und des Abgespalten-Seins vom Ganzen. Nur in dieser Weise möchte ich Abhängigkeiten, Leidenschaften oder Anhaftungen als „Sünde“ interpretieren, falls dieses vielfach missverständlich verwendete Wort in diesem Kontext überhaupt Verwendung finden sollte. Diese „sündige“ Klangdissonanz erzeugt die Sehnsucht nach Ganzheit und kann die Überwindung der Verstimmtheit mit der inneren Ausrichtung auf die ordnende Kraft harmonischer Schwingungen gestalten. Somit wirkt in jeder Kunst, wenn sie harmonisierend und wahrheitsliebend die schmerzhaften Wunden und unbequemen Wahrheiten des Individuums oder des Zeitgeistes aufdeckt und sichtbar macht, das Potential zu Gesundung und Heilung auf der Ebene der individuellen und kollektiven Ordnung. In diesem Sinne sollte Kunst die menschliche Seele berühren und den geheimnisvollen Zugang zum Wunder des Lebens offenbaren. In dieser Haltung ist Genesungsarbeit eine erweiterte „künstlerische Aktivität“. So höre ich das Zitat von Joseph Beuys, wenn er verkündet, dass „jeder Mensch ein Künstler“ - ein einzigartiger Schöpfer harmonikaler Strukturen (eine „soziale Skulptur“) ist.
Die Lehre von den Gedanken Um den Blick für ein anderes heilsames Instrument bei der Überwindung von Abhängigkeiten zu öffnen, möchte ich einen Kurzausflug in die mystische Tradition der Wüstenväter (die meisten von ihnen waren Männer) unternehmen und in zusammenfassender Weise und in vereinfachten Linien die Bedeutung des Grundanliegens der Lehre von den Gedanken vorstellen. In dieser fast zweitausend Jahre alten Tradition und neben vielen anderen maßgeblich von dem sogenannten Psychologen, Mönch, Wüstenasketen und Schriftsteller Evagrius Pontikus (345-399) beschrieben, findet sich die sogenannte Lehre von den Gedanken. Hierbei werden die menschlichen Grundbegierden in acht verschiedene Leidenschaften/Laster unterteilt. Auch die Bezeichnung „Dämon“ fand bei der Beschreibung dieser menschlichen Verhaltensweisen gebräuchliche Verwendung. Die damaligen Gottsucher kämpften in der Wüste mit den Leidenschaften in Gestalt dieser „Dämonen“ und lernten sie auf diese Art und Weise natürlich auch ausführlich kennen.
Nach der platonischen Dreiteilung der Seele sind die ersten drei dieser „Dämonen“ den biologisch/körperlichen Triebkräften, die drei folgenden den emotional/seelischen Kräften und die zwei letzten den verstandesmäßig/mentalen Triebkräften des Leibes zugeordnet. Die drei dem Körperlichen zugeordneten Leidenschaften sind die Wollust, die Habgier und die Fresssucht, die drei dem emotionalen Bereich zugeordneten sind die Traurigkeit, die Wut/der Zorn und die sogenannte Akedia (Schwermut). Die zwei als am Schwierigsten zu verwandelnden Laster, erscheinen als Hochmut und Ruhmsucht. Anzustreben auf einem spirituellen Weg und im geistlichen Kampf ist die Transformation dieser von Gott wegführenden Kräfte in die acht zu Gott hinführenden entsprechenden Tugenden. In einem meist lebenslangen Prozess des eigenen Bemühens unter dem Zeichen der Gnade (ein Sufilehrer sagt: „99% Gnade, 1 % eigenes Bemühen, 360 Grad Bereitschaft, in alle Richtungen zu wachsen … das 1 % eigenes Bemühen ist dein Part - mach es! Alles andere geschieht wie von selbst.“) kann aus Wollust die Keuschheit (Fülle der Weisheit) erwachsen; aus Habsucht die Fähigkeit zum Dienen und Gerechtigkeit sowie die Fähigkeit zu geben; aus Fresssucht (auch stoffliche Süchte) die Zurückhaltung und die Fähigkeit zum Maßhalten; aus Traurigkeit erwächst Freude; aus Zorn kann die Sanftmut werden; aus dem „Mittagsdämon“, auch mit Acedia bezeichnet, die Gabe zu Geduld und Beständigkeit; der Hochmut verwandelt sich in Bescheidenheit und Mitgefühl und aus Ruhmsucht erwächst das Gottgedenken und die Demut. Die Begierden, Laster oder Leidenschaften wurden sehr differenziert und ausführlich in den alten überlieferten Texten der Wüstenheiligen (z.B. in der Philokalia) beschrieben. In diesen alten Beobachtungen und sehr exakten Aufzeichnungen über die unterschiedlichsten Bewegungen des menschlichen Bewusstseins, finden sich sehr differenzierte Zuordnungen und Beschreibungen der einzelnen Triebkräfte des menschlichen Geistes. Die Auseinandersetzung und Überwindung der Leidenschaften gilt als ein Aspekt der via purgativa und ist die vorbereitende Grundklärung/Läuterung auf dem Weg in die Einheitserfahrung mit dem göttlichen Mysterium. In der auch so benannten Achtlasterlehre finden sich sehr zutreffend Parallelen zu den verschiedensten Süchte und Abhängigkeiten und lassen sich folgerichtig diesen Leidenschaften oder „Dämonen“ zuordnen. In neuerer Zeit finden sich ausgezeichnete Interpretationen und Kommentare zu dieser Psychologie aus der Wüste und beschreiben deren Aktualität für den Menschen in der heutigen Zeit. Hervorzuheben wären die Arbeiten von Gabriel Bunge, Daniel Hell oder Anselm Grün, um nur einige zu nennen.
Von der Wüstenerfahrung zur Salutogenese in vier Schritten Der erste Schritt: Abhängigkeitserfahrung ist ein Aspekt auf dem Weg zu Gott. Zu den Zeiten der Wüstenväter und in den Anfängen des Christentums galten die Leidenschaften und Dämonen als zu überwindende Abhängigkeiten oder Begierden. Sie wurzelten, als Quelle allen Übels, in einer mit Selbstsucht bezeichneten Grundabhängigkeit und konnten überwunden werden, wo die Entfaltung der Tugenden an ihre Stelle traten. Die erfolgreiche Auseinandersetzung in diesem Bereich leerte und klärte den Menschen auf der körperlichen, psychischen und geistigen Ebene und bereitete den Bewusstseinsraum für die Einwohnung des Heiligen (theosis). In diesem oftmals lebenslangen geistlichen Kampf hatte der gottsuchende Mensch die verschiedenen Stufen der geistlichen Leiter treu und voller Hingabe zu erklimmen. Dieser mit kleinen Schritten zu beschreitende Weg vollzog sich nach individuell unterschiedlichen, doch in großen Linien übereinstimmenden und dreistufig zugänglichen Erfahrungsfeldern, die der Mensch auf dem Weg der Klärung und Reinigung (via purgativa), der zunehmenden Einsichtnahme in das göttliche Mysterium (via illuminativa) und der zu erlangenden Herzensruhe (hesychia) zu beschreiten hatte. Ziel des Weges gipfelte in der Einheitserfahrung (via unitiva - theosis - unio mystica) und wurde mit größter Hingabe angestrebt.
Der zweite Schritt: Abhängigkeitserfahrung ist Sünde. Im Mittelalter entwickelte sich aus dieser Tradition heraus die Idee von den Todsünden. Ihr wurden die verschiedenen dämonischen Kräfte und Leidenschaften des Menschen zugeordnet. Damit erhielt der ganze Verhaltens- und Erfahrungsbereich einen Charakter, der diese Kräfte im Menschen zunehmend mit dem Begriffen der Moral und einem dualistischen Sündenverständnis in Verbindung brachte. In diesem Weltbild wurde süchtiges Verhalten zu einem vorrangig sündigen Verhalten, das bestraft, sanktioniert oder freigekauft werden konnte. Im Zutreffen einer wirklichen Todsünde gar unverzeihlich und verdammt bis „in alle Zeiten“. In diesem die Einheit zertrennenden Weltbild von Himmel und Hölle, einem strafenden personalen Richtergott und die verdammungswürdige und schambesetzte Beurteilung der Leidenschaften, wirkt bis heute nach und prägt bei vielen Menschen die Interpretation von süchtigem oder abhängigem Verhalten. Diese moralbetonte Haltung geht oftmals mit einer „Gottesvergiftung“ einher, von der es sich endgültig zu verabschieden gilt und deren zerstörerische Auswirkungen und Spuren ich heutzutage bis in meine Seminararbeit hinein bei manchen Menschen immer noch sehr markant erlebe.
Der dritte Schritt: Abhängigkeitserfahrung ist Krankheit. In der Mitte des letzten Jahrhunderts gab es eine befreiende Zäsur und einen vorsichtigen Gesinnungswandel. Im Zuge der Erforschung von Krankheiten und eines veränderten Krankheitsverständnisses gelang es süchtiges Verhalten weg von einer zu bestrafenden Moralverfehlung hin zu einem Krankheitsbegriff zu etablieren, der bis heute weitgehend gültig ist. Im offiziellen Sprachgebrauch der Weltgesundheitsorganisation (WHO) existierte zunächst noch der Begriff Sucht. Danach wurde er durch Missbrauch und später den Begriff der Abhängigkeit ersetzt. Im professionellen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch der Bereiche Medizin und sozialer Arbeit wird mittlerweile die Formulierung „Abhängigkeitssyndrom“ bevorzugt. Ich verwende und betone weitgehend den Begriff der Abhängigkeitserfahrung, da ich den wertfreien und auf Erfahrung fokussierten Charakter dieses Phänomens für ein neues Genesungsverständnis für wichtig erachte. Die Anerkennung und Einordung abhängiges Verhalten als Pathologie war und ist entscheidend und bedeutsam für die Anwendung der Behandlungskonzepte im Suchhilfesystem in Deutschland und auch International. Damit wurde umfassend anerkannt, dass das Abhängigkeitsphänomen behandelbar und erforschbar ist und von den zuständigen Gesundheits- und Kassensystemen finanziell und strukturell unterstützt werden muss. Doch wie geht es weiter?
Der vierte Schritt: Abhängigkeitserfahrungen als Eingangstore in die Erfahrung der Ganzheit oder wie entsteht Gesundheit? Immer mehr ganzheitliche und komplementärmedizinische Wissenschaftsbereiche und integrale Gesundheitsmodelle verlassen die pathologische Perspektive und beschäftigen sich mit der Frage, wie Gesundheit eigentlich entsteht, was Gesundheit eigentlich meinen könnte. Diese Ansätze stellen eher die Frage nach einem Wozu anstatt nach einem Warum. Diese zukunftsweisenden Forschungsansätze versuchen herauszufinden, welche Ressourcen und Begabungen erforderlich sind, damit seelische Gesundheit entsteht, und welche Vorrausetzungen nötig sind, damit sich diese entfalten können. Diese Konzepte betrachten prozessorientiert Dynamiken zur Entfaltung und Ausbalancierung verschiedener Kräfte im Menschen, die kohärente Systeme und stabilisierende Zustände erzeugen und zur individuellen Empfindung der Wahrnehmung von Gesundheit Voraussetzung sind. Bekannt geworden sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse zur Erforschung der Gesundheitsentstehung und die daraus erwachsenen Fachgebiete und Begriffe Salutogenese und Resilienz.
Das Modell der Salutogenese, das von dem amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky seit den 70er Jahren entwickelt und formuliert wurde, stellt dabei einen hilfreichen und gut dokumentierten Forschungsansatz dar. Die Entwicklung seelischer Gesundheit an einem geeigneten Heilungsort für Körper, Seele und Geist, steht im Mittelpunkt eines integralen suchttherapeutischen Handelns. Das ganzheitliche, salutogenetische oder integrale Konzept zur Entfaltung seelischer Gesundheit betont neben den bereits verwendeten Interventionsebenen die Bedeutung ganzheitlich wirkender heilsamer Genesungschritte und Übungen z.B. durch bewusstseinstransformierende Meditationen, Achtsamkeitsübungen, Gustogenese und die Einbeziehung einer spirituellen Perspektive. Die Resilienzforschung verfolgt ein ähnliches Anliegen und dient damit einer immer stärkeren Integration ganzheitlich schauender Behandlungsansätze in das bestehende Gesundheitssystem. Resilienz meint übersetzt zunächst einmal nur die Toleranz eines Systems gegenüber Störungen (lateinisch resilire „zurückspringen“, „abprallen“, deutsch etwa Widerstandsfähigkeit). Resilienz ist die Fähigkeit eines Systems, mit Veränderungen umgehen zu können.
Der Rausch Wenn wir über Abhängigkeitserfahrungen sprechen, braucht es eine notwendige Klärung bezüglich der damit einhergehenden Rauscherfahrung. Mit Rausch bezeichnen wir ein universelles Phänomen, das zu allen Zeiten und in allen Kulturen existierte und existiert. Der Rausch stellt eine Suche nach der Befreiung von den Beschränkungen des menschlichen Daseins dar und war zu allen Zeiten ein Versuch, der Not des Leidens zu entkommen. Leid war das grundlegende Motiv und die erleichternde Berauschung die bevorzugte Antwort auf dieses Leiden. Der Mensch hat solche besonderen Zustände des Erlebens ersehnt, gesucht oder gefürchtet und er hat ihnen eine über das Alltägliche hinausgehende Bedeutung zugemessen. In seinem Buch „Göttliche Gifte“ beschreibt Alexander Kupfer diesen Zustand: „Es ist kein Zufall, dass der Rausch in den frühen Zivilisationen - wie so oft auch der Wahnsinn - als ein heiliger Zustand gedeutet wurde: eine Manifestation des Göttlichen senkt sich in das Bewusstsein des Menschen herab.“ In dem Buch von Alexander Kupfer „Göttliche Gifte“ habe ich eine zutreffende Beschreibung des Wortes Rausch gefunden. „Das Wort „Rausch“ geht zurück auf das mittelhochdeutsche Verb „ruschen“, das ein mächtiges Heranströmen oder den Ansturm einer großen Kraft umschreibt, wobei auch die Vorstellung von Schnelligkeit oder Plötzlichkeit mit anklingt, die sich besonders deutlich in dem verwandten englischen Verb „to rush“ (hasten, eilen) und auch in Begriffsbildungen wie „gold rush“ (Goldrausch, das rauschhafte Hineilen zum Gold) erhalten hat. Das Wort bezeichnet also zunächst eine physische Überwältigung des Menschen, wie sie etwa durch eine Naturgewalt oder eine feindliche Streitmacht erfolgen mag und wird schließlich auch im übertragenen Sinn zur Kennzeichnung eines Zustandes der Entrückung verwendet, in dem sozusagen die Vernunft und das gewöhnliche Wachbewusstsein die Waffen strecken.“ In dieser Weise erscheint Rausch als ein Mittel, um die „Diktatur der Vernunft“ zu überwinden und ist Ausdruck eines starken Interesses, das an den verheißenen verstandesfreien Wunderwelten des Drogenrausches teilnehmen möchte. Diese andere Wahrnehmung der Wirklichkeit kann den Berauschten plötzlich und mit aller Kraft ergreifen und katapultiert ihn mit großem Tempo aus der normal erlebten Realität. Im Rausch öffnen sich ihm „Goldene Zeiten“ und die Realität erscheint wie ein Märchen aus 1001 Nacht. Im Rausch wird der radikalrationalistischen Deutung der Welt ein visionärer Pol entgegengesetzt, durch dem sich dem Individuum die tieferen spirituellen Zusammenhänge des Daseins erschließen können. Der Rausch kann für ein inneres und eher intuitiveres Sehen der Wirklichkeit öffnen und mit einem poetisch kreativen Bild von der Welt einhergehen.
Mystische Erfahrungsdimensionen und Rausch Was sind allgemeine Kennzeichen einer mystischen Erfahrung und einer Rauscherfahrung? Was erfährt man denn nun im Rausch oder in einer mystischen Erfahrung? Was empfindet, sieht oder erkennt der in diesem Zustand befindliche Mensch? Ich möchte sechs typische Merkmale beider Erfahrungsebenen aufzeigen und diese kurz ausführen. Sie bilden nur einen kleinen Ausschnitt des alle Sinne umfassenden Erlebens ab und möchten dennoch einen Einstieg bieten, um das Miteinander dieser scheinbar getrennten Welten sichtbar zu machen.
1. Das Ich verliert die Kontrolle Am Anfang verliert das Ich die Kontrolle und eine Rauscherfahrung wird häufig beschrieben als ein zurücktreten des Ich´s. Die Identifikation und die Dominanz mit dem Ichbewusstsein verringert sich und verliert an Präsenz. „Manchmal meint die berauschte Person, ihre Persönlichkeit löse sich auf und es gebe keinen Unterschied mehr zwischen ihrem Selbst und dessen Umgebung (diese Erfahrung wird z.B. in der Drogenforschung als Depersonalisation bezeichnet).“
In allen Befragungen zur Suchtdiagnose findet sich auch die Frage zum Kontrollverlust. In der pathologischen Interpretation dieses Kontrollverlustes wird dieser negativ dargestellt und zeigt bei Bejahung auf diese Frage an, dass der Süchtige tatsächlich krank ist und nicht mehr fähig, seinen Willen zu kontrollieren. Dieser Mensch ist nicht in der Lage, ein gesundes Konsummaß zu finden. Er trinkt bis zum „Umfallen“. In der mystischen Erfahrung und in vielen spirituellen Übungswegen ist der Kontrollverlust oder um in der Sprache zu bleiben, dieses „Umfallen“ des Ego´s geradezu Voraussetzung und wünschenswertes Ziel, um einen inneren Raum für das Heilige zu bereiten, in dem dann die über das kleine Ich hinausgehende Dimension des Lebens, erfahrbar werden kann. In beiden Beschreibungen finden wir eine scheinbar unbeeinflussbare und unberechenbare Überwindung und „Befreiung“ der normalerweise schutzvollen und nützlichen Willensqualitäten des Ichbewusstseins.
2. Die Wahrnehmung über das Ich verändert sich Dieses beinhaltet die Wahrnehmungsveränderung auf der körperlichen und auf der mental/psychischen oder seelischen Ebene. Empfindungen von Wärme oder Kälte, unerhörter Wachsamkeit, Durst, Erhöhung der Empfindungssensibilität, innere Unruhe oder Gelöstheit treten in unterschiedlicher und typologisch geprägter Intensität auf. Das Ich verliert seine Bedeutung und seinen Halt, es löst sich gleichsam auf und tritt in den Hintergrund. Wer einmal einen LSD Rausch erfahren hat, kann erahnen, was damit gemeint sein könnte. Das Ich scheint darin tatsächlich als verlässliche Größe nicht zu existieren. Für Andere werden diese Perspektiven auf die Möglichkeit, dass ein Ich verloren gehen kann oder völlig neu interpretiert wird, eher fremd und unzugänglich bleiben. Das sonst so beständig und unverrückbar erscheinende Ich lässt einer Wirklichkeit den Vorzug, der im Alltagserleben bei den meisten Menschen, wie Nicht-Vorhanden erscheint. Das Ich ist in diesem Zustand ver-rückt. Es ist weg aus dem Mittelpunkt und verliert sich in der geleerten Fülle einer neuen Bewusstseinsdimension.
3. Die Wahrnehmung von Raum/Zeit verschiebt sich Der oder die Berauschte/Entrückte verliert jeglichen Bezug zu Raum und Zeit und gewinnt die Fähigkeit, in der Intensität des Augenblicks die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft vereint zu erleben. Es existiert nur die Fülle der Ewigkeit, die im Jetzt in Erscheinung tritt und der er fähig ist, sich ganz hinzugeben. Der französische Schriftsteller Charles Baudelaire hat sich intensiv mit Rauscherfahrungen beschäftigt und schreibt: „Zum Glück hat dieser entgrenzende Wahn nur eine Minute gedauert, denn ein mühsam errungener Moment der Klarheit hat euch erlaubt, nach der Standuhr hinüberzublicken. Aber schon tragen andere Gedanken euch in ihrer Strömung dahin; auch sie wird euch eine Minute in ihrem lebendeigen Wirbel umtreiben, und diese Minute wird euch eine Ewigkeit währen. Denn die Menge und die Intensität der Vorstellungen und Gedanken sind so groß, dass die Proportionen der Zeit und des Daseins völlig durcheinander geraten. Es ist, als lebe man mehrere Menschenleben innerhalb einer Stunde.“ Auch das vertraute räumliche Empfinden tritt zurück. Aldous Huxley beschreibt seine Erfahrung mit folgenden Worten: „Lage und Entfernung verlieren stark an Interesse, und der Geist macht seine Wahrnehmungen in Begriffen des Daseinsintensität, der Bedeutungstiefe, der Beziehungen innerhalb einer bestimmten Anordnung. ... Der Raum war noch immer da; aber er hatte sein Übergewicht verloren. Der Geist war an erster Stelle nicht mit den Maßen und räumlichen Beziehungen der Gegenstände zueinander befasst, sondern mit Sein und Sinn.“ Auf die Frage bezüglich seines Gefühls zu Zeit, antworte Huxley dem Experimentator während seiner Rauscherfahrung mit Meskalin: „Sie scheint reichlich vorhanden zu sein.“ Obwohl ganz in Raum und Zeit, erfährt sich das Bewusstsein in diesem Zustand raumbefreit und zeitbefreit. Für Jean Gebser ist die Fähigkeit des Bewusstseins zur Erfahrung und Wahrnehmung einer Raumzeitfreiheit geradezu ein typisches Kennzeichen, einer sich neu manifestierenden integralen Bewusstseinsstruktur.
4. Paradies, Zustände von Glückseligkeit, Einheit Auch hier sind ganze Bände gefüllt worden mit Berichten über Einheits- und Erleuchtungserfahrungen, die in den unterschiedlichsten Kulturkreisen gemacht wurden. Ob es der Samadhizustand der Yogis ist, die plötzliche Erkenntnis vom universellen Wesen des Daseins in der Erfahrung des Satori im Zen, das Nirvana im Buddhismus oder der kontemplative Zustand in der unio mystica, den wir in der christlichen Mystik beschrieben finden - alle diese Begriffe verweisen auf eine transkonfessionelle, rationalistisch nicht erklärbare Erfahrungsdimension des menschlichen Bewusstseins, das kultur- und zeitübergreifend tiefe Spuren in der Entwicklungsgeschichte des Menschen hinterlassen hat und auf die Wurzeln und die Quelle der Religionen und großen Weisheitstraditionen verweist. Manchmal sind es auch die eher unspektakulären kleinen Berührungen, die das Sein nachhaltig verwandeln oder ganz sanft vorsichtige Ahnungen vom Großen Geheimnis schenken.
5. Hölle, die Begegnung mit dem Dunklen, dem Schatten und dem Bösen Da mystische oder Rauscherfahrungen besonders „dünnhäutig“, sensibel, feinfühlig und empfindsam stimmen können, führen sie dazu, dass unbewusste Inhalte, unerlöste Themen, nicht verarbeitete Ereignisse und Erfahrungen in das Bewusstsein gespült werden und sich dort während einer Rauscherfahrung in Bildern, Gefühlen oder Phantasien „ausspinnen“ können. Gerade hierfür braucht es eine erfahrene Begleitung, die solche Ereignisse zu deuten und zu interpretieren weiß, damit eine Integration dieser bewusstgewordenen Wachstumsaufgaben gelingen kann. In der Rauscherfahrung wird nichts sichtbar, was nicht in irgendeiner Weise im Bewusstsein als Potential bereits vorhanden ist. Das ist einerseits tröstlich andererseits macht es auch darauf aufmerksam, dass bestimmte Erinnerungen und Inhalt zum eigenen Schutz im Verborgenen bleiben sollten.
6. Das Für-Wahr-Nehmen des Erlebten, die Gewissheit über das Erlebte Die im Rausch gemachten Erfahrungen verlieren sich nicht im Vergessen. Oftmals sind die Einsichten, Bilder oder Erkenntnisse lange nach dem Rauscherleben abrufbar und können dabei verhelfen das Geschaute zu interpretieren oder zu integrieren. Somit kann eine im Rausch gewonnene Inspiration im normal erlebten Alltag weiterwirken und diesen prägend gestalten. Eine Rauscherfahrung kann das ganze Leben nachhaltig und grundlegend verwandeln. Sie gleicht in mancher Hinsicht den Berichten von Menschen, die eine Nahtoderfahrung oder eine andere sogenannte extreme Gipfelerfahrung erlebt haben. Diese wird oftmals als Grund für eine tiefgreifende und permanente Lebensveränderung angegeben.
Bin ich bereit, einen anderen Weg zu gehen? Bin ich wirklich daran interessiert einen anderen Weg zu gehen? Möchte ich wirklich die Fahrbahn oder das das Stockwerk wechseln oder ist es mir eigentlich am liebsten, in der bestehenden Umgebung horizontal die Möbel hin und herzurücken? Habe ich genug Einsicht und Motivation, etwas wirklich Neues erfahren zu wollen? Altes zu verabschieden? Frei zu sein und zu werden für das, was mir in jedem Lebensjetzt widerfährt? Bin ich bereit, zu Lieben was ist? Kann ich in meinen Verwundungen das Wunder des Lebens spüren? Bin ich wirklich bereit, mich mit der ganzer Hingabe meines sehnendes Suchen in diese Wunde zu legen, um darin zur Wahrheit des Wunders der Ganzheit zu erwachen? Joseph Beuys hat einmal gesagt: „Ich bin interessiert an Transformation, Veränderung, Revolution“. Mir gefällt diese Radikalität und Klarheit. Aus meiner Perspektive und meinem Erfahrungshintergrund heraus würde ich dieses ähnlich und ein wenig verändert formulieren: „Ja, Herr Beuys, auch ich bin interessiert an Transformation, Integration und Ganzwerdung“. Beide Akzente können hilfreich sein, um das Leben in dem Gegebenen und eben auch in den Abhängigkeitserfahrungen neu auszurichten. Sei es auch nur, um hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken und in jeder sichtbaren Erfahrung des Lebens vom Aufleuchten des Unsichtbaren ergriffen und berührt zu werden. Wein ist in der mystischen Bildersprache die symbolische Bezeichnung für die Gegenwärtigkeit des Heiligen, das in der Musik, in der Natur, in den Menschen, in allen Beziehungen und in den unzähligen Farben, Klängen und Formen der ganzen Schöpfung vollkommen und unendlich anwesend ist.
Ein alter Mystiker sagt:
„Sprich einzig nur vom Wein und schweig zum rätselhaften All, denn niemand kann das Rätsel lösen. Sei glücklich und sei trunken in Gott.“
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